Aktuelles
Till Bastian ist Preisträger der Dr. Margrit Egnér-Stiftung 2017
Am 9. November wurde Till Bastian der Preis der Dr. Margrit
Egnér-Stiftung in Zürich verliehen. Mit diesem jährlich vergebenen
Wissenschaftspreis würdigt die Stiftung Personen, »die durch
ihr Lebenswerk, das Verfassen einzelner hervorragender Arbeiten oder die
praktische Tätigkeit auf wissenschaftlicher Grundlage zu einer humaneren Welt
beitragen, in welcher der Mensch in seiner Ganzheitlichkeit im Mittelpunkt
steht«.
Lesen Sie nun im Folgenden die Rede
»Das Unbehagen in der Kultur« von Till Bastian
zur Entgegennahme des Egnér-Preises:
»Das Unbehagen in der
Kultur«, 1930 verfasst, ist einer der bekanntesten Texte Sigmund Freuds
(1856–1939) und mein Stichwortgeber für den heutigen Abend. Eine recht häufig
zitierte Passage aus diesem Essay lautet so: »Das gerne verleugnete Stück
Wirklichkeit hinter alledem ist, daß der Mensch nicht ein sanftes,
liebebedürftiges Wesen ist, das sich höchstens, wenn angegriffen, auch zu
verteidigen vermag, sondern daß er zu seinen Triebbegabungen auch einen
mächtigen Anteil von Aggressionsneigung zählen darf. Infolgedessen ist ihm der
Nächste nicht nur möglicher Helfer und Sexualobjekt, sondern auch eine
Versuchung, seine Aggression an ihm zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne
Entschädigung auszunützen, ihn ohne seine Einwilligung sexuell zu gebrauchen,
sich in den Besitz seiner Habe zu setzen, ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu
bereiten, ihn zu martern und ihn zu töten. ›Homo homini lupus‹; wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens
und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten?«
Man mag die ihrem eigenen
Anspruch nach kulturkritische, im Wesen aber vor allem misantrophische
Weltsicht, die Freud hier verschriftet hat, und zwar 12 Jahre nach dem bisher
blutigsten aller Kriege, nach dessen Ende auch seine geliebte Tochter Sophie
gestorben ist, gewiss als nachfühlbar empfinden. Der heutige
sozialwissenschaftliche Kenntnisstand allerdings gebietet, unmissverständlich
klarzustellen: Jener Satz, den laut Freud niemand bestreiten könne, »Homo
homini lupus« = »Der Mensch ist des Menschen Wolf«, ist schon immer völliger
Unsinn gewesen. Die Menschen behandeln einander nicht so, wie die Wölfe es tun,
sondern sehr viel schlimmer: Wölfe martern einander nicht, sie nützen auch
nicht die Arbeitskraft des anderen »ohne Entschädigung« aus – Wölfe sind
nämlich sehr soziale Tiere; der »Krieg aller gegen alle«, in dem Freuds Vorbild
Thomas Hobbes (1588–1679) den »Naturzustand« der Menschen zu erkennen glaubte,
weshalb der »Leviathan« Staat für Ruhe und Ordnung sorgen müsse, ist ihnen
völlig fremd. In einem Film, den der Sender ARD-Alpha am 24. Mai 2017
ausgestrahlt hat (»Deutschlands wilde Wölfe«), hörte ich einen US-Wildhüter aus
dem Yellowstone-Nationalpark sagen: »Wölfe sind in vielerlei Hinsicht
friedlicher als Menschen...«
Der Mann hat zweifellos
recht: Die Mega-Verbrechen der Menschen gegeneinander, von den Kreuzzügen bis
zu den Konzentrationslagern, resultieren ja gerade aus dem, was Wölfe gar nicht
kennen: Aus Ideen, Ideologien, Weltanschauungen, aus Vorstellungen darüber, was
gut, was böse und was Gott gefällig sein könne – bis hin zu der Wahnidee, es
könnte in Gottes Sinne sein, sich in einer Konzerthalle in die Luft zu sprengen
und 22 Kinder und Jugendliche in den Tod zu reißen. Wer solche geistesverwirrte
Taten »bestialisch« nennt, beleidigt damit die Tiere. Weit treffender als Freud
hat es der amerikanische Anthropologe Loren Eiseley (1907–1977) formuliert,
nach dessen Worten der Mensch »eine wankelmütige und unberechenbare Kreatur«
ist, »die für schemenhafte Ideale heftiger und wütender tötet als andere
Geschöpfe für ihre Nahrung«.
Es könnte sich daher
lohnen, tiefer zu graben: Ist es denn die Kultur, in der wir uns »unbehaglich«
fühlen, wie Freud meinte, oder vielleicht doch eher die Zivilisation, also ein
bestimmter Entwicklungstand des kulturellen Fortschrittes?
Wenn wir als »Zivilisation«
jene Ära der Kulturgeschichte betrachten wollen, die mit der so genannten
neolithischen Revolution, also vor rund 10.000 Jahren begonnen hat, müssen wir
feststellen: Die unzivilisierten Zeiten waren möglicherweise behaglicher.
Die Epoche der Jäger und
Sammler(-innen) erstreckt sich über eine Zeitdauer von weit über 100.000
Jahren. In abgelegenen Räumen konnten derartige Frühgesellschaften noch bis ins
20. Jahrhundert überleben; sie waren begehrte Objekte der Beobachtung für eine
Wissenschaft, die sich früher »Völkerkunde« und später »Ethnologie« genannt
hat. Und aus dieser ethnologischen Forschung geht, auch wenn man einzelnen
Forschungsergebnissen kritisch gegenübersteht, eines zweifelsfrei hervor: Diese
Gemeinwesen waren klein an Zahl, aber reich an Muße und Miteinander. Den
meisten solcher Stammeskulturen reichen etwa zwei bis drei Stunden am Tag zur
Sicherung der eigenen Existenz völlig aus: der Rest steht zur Muße zur
Verfügung, zum Erzählen endloser Geschichten, für Spiele, Gruppenrituale, Musik
und Tanz. Der Imperativ »Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot
essen!« wurde erst dann lebensprägend, als Getreide angebaut und daraus Brot
gebacken werden konnte – also mit dem Übergang zur sesshaften
Agrargesellschaft.
Nach Untersuchungen bei den !Kung-San
in der afrikanischen Kalahari, die von anderen Forschern bei anderen Stämmen
mehrfach bestätigt worden sind, verbringen die Erwachsenen durchschnittlich 2,4
Wochentage mit Sammeln und Jagen, wobei etwa 60 Prozent der Nahrungskalorien
(im Durchschnitt etwa 2355 Kalorien pro Kopf und Tag) durch die Sammeltätigkeit
der Frauen herbeigeschafft wurden, zwischen zehn und dreißig Pfund Nüsse,
Beeren, Früchte, Gemüse und Wurzeln pro Tag, wofür täglich zwischen drei und
achtzehn Kilometern zurückgelegt werden; die Männer jagen nur etwa jeden
dritten und vierten Tag. »Diese Jäger und Sammler leben keineswegs ständig an
der Hungergrenze, sondern haben im Gegenteil, gemessen an ihrem guten
Gesundheitszustand und ihrem elastischen Zeitbudget, einen hohen Lebensstandard«,
meint der Historiker Wolfgang Reinhard (geb. 1956), und schlussfolgert sehr zu
Recht: »Kein Wunder, dass unsere Vorfahren es lange mit dieser Lebensweise
ausgehalten haben und der Grund zur Veränderung ziemlich unklar bleibt.«
Das »Unbehagen« des
Menschen an seiner sozialen Verfasstheit wurzelt also wohl nicht am Widerspruch
seiner »Triebnatur« zu seiner kulturellen Einbettung, denn in dieser hatte er,
als sie sozusagen noch »rudelbasiert« war, wie auch der Wolf über Zigtausende
von Jahren auskömmlich, ja gut leben können. Erst die »neolithische Revolution«
vor rund 10.000 Jahren hat mit Ackerbau, Viehzucht, Städtegründungen,
Gottkönigtum, Priesterzeremonien und Sklaverei eine völlig neue Situation
geschaffen, für deren Erklärung jeder Rückgriff auf Tierreich und
Triebnatur=Tiernatur völlig abwegig ist. Erst mit Ackerbau und Viehzucht, mit
der von der Verteilung ihres Mehrproduktes (in der Regel einer höchst
ungerechten Verteilung!) abhängigen Ackerbaugesellschaft kommt also der Zwang
zu andauernder Arbeit in die Welt. Um einen der originellsten Denker des 20.
Jahrhunderts, Ernest Gellner (1925–1995), zu zitieren:
»Hegel hatte die
Weltgeschichte als einen Prozess skizziert, der von einem Staat, in dem ›einer‹
frei ist, über einen Zustand, in dem ›einige‹ Freiheit haben, schließlich zu
einem Kulminationspunkt führt, an dem ›alle‹ Freiheit genießen. Wir könnten
heute, weniger pathetisch, dieses Schema durch ein anderes ersetzen, bei dem
ursprünglich alle dem Müßiggang frönen, und dann nur noch einige wenige und
schließlich, unter der Herrschaft des Arbeitsethos, niemand mehr.«
Dieses moderne Arbeitsethos
entstand in der frühen Neuzeit, wird häufig mit der Ausbreitung des
Protestantismus in Verbindung gebracht, und der Physiker Benjamin Franklin
(1706–1790) lieferte ihm mit seinem Satz »time is money« nur ein
nachträgliches, zu dieser Zeit schon längst praktiziertes Leitmotiv (es ist in
Franklins 1748 erschienenem Buch »Ratschläge für junge Kaufleute« zu finden!).
Etwas älter ist das Motto »wisdom is power« des britischen Lordkanzlers Francis
Bacon (1561–1626): »An die Stelle des Glückes der Betrachtung tritt die Sache des
Glückes der Menschheit und die Macht zu allen Werken« hieß es in seinem »Novum
Organon«.
Ob diese »Macht zu allen
Werken« nach rund vierhundert Jahren Industriegesellschaft und allgemein
verpflichtendem Arbeitsethos der Menschheit wirklich zum Vorteil gereicht, ist
allerdings keineswegs sicher – dem Rest der Welt jedenfalls sicher nicht, wie
Artensterben und globaler Klimawandel eindrücklich bezeugen. Und was die
menschliche Seele anbetrifft, so darf die Frage nach Nutzen und Schaden
einstweilen getrost offen bleiben. Zwar hat unsere Lebenszeit und mit ihr auch
die von Erwerbsarbeit freie Zeit insbesondere in der Phase der Konsum- und
Kommunikationsgesellschaft seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges deutlich
zugenommen; die Kehrseite der Medaille ist, dass der »außengeleitete
Charakter«, wie ihn David Riesman (1909–2002) schon in den fünfziger Jahren
beschrieben hat, nicht nur eine zuvor völlig unbekannte Menge an »Synchronisationsleistungen«
zu erbringen hat, um im mainstream der Moderne nicht abzusaufen; auch die »Freizeit«,
d. h. die nicht der Erwerbsarbeit geschuldete Zeit ist, soweit sie nicht den
erwähnten »Synchronisationsleistungen« gewidmet ist, in hohem Maße dem
Leistungsdruck unterworfen, nämlich dem Streben, etwas »erleben« zu müssen,
etwas aus der Freizeit zu »machen«, und dieses Streben ist begleitet von der
ständigen Angst, etwas Besseres, ja das Entscheidende, zu versäumen.
Der französische Soziologe
Alain Ehrenberg (geb. 1950) hat in Fortsetzung der von David Riesman
begründeten Tradition darauf hingewiesen, dass dieser moderne »außengeleitete
Charakter« (»directed by the others« heißt es im Original) weniger von der
Neurose gefährdet ist, also vom Konflikt zwischen »Pflicht und Neigung« und dem
auf ihn folgenden Schuldgefühl, sondern von der Depression, dem Zurückbleiben
hinter den Ansprüchen an sich selbst: »Die Depression kann als etwas gesehen
werden, das die psychische Dimension der Probleme benennt, die eine Person an
ihrer persönlichen Initiative misst und die die Frage der persönlichen
Entfaltung über die Frage von Verboten stellt; oder anders ausgedrückt, eine
Gesellschaft, in der jeder sein eigener Herrscher ist und sich dadurch mit der
Frage der unbegrenzten Möglichkeiten konfrontiert sieht. Die beiden Gegensätze
erlaubt/verboten, die das Herz der neurotischen Problematik sind, gehen nun auf
in der Polarität möglich/unmöglich.« Die Depression erweist sich so als
Krankheit, in der das Gefühl der Insuffizienz über dem der Schuld steht. Aus
Herkules am Scheidewege, der sich zwischen dem Ziel seiner Neigungen und den
Geboten der Pflicht zu entscheiden hat, wird Herkules der Ausgebrannte, der
sich bei seinem Erlebnishunger und bei seinem gierigen Streben nach Glück
schlicht und einfach zuviel zugemutet hat.
Die »primitiven« Jagd- und
Sammelkulturen, in denen die Muße so hoch im Kurs stand und in denen, nach
heutigen Maßstäben, nur empörend wenig gearbeitet wurde, zeichneten sich der
Moderne gegenüber durch zwei weitere Merkmale aus, die für unser Thema
ebenfalls von Bedeutung sind: Zum ersten gab es die stets sehr ernst
genommenen, nach heutiger Auffassung bisweilen recht grausamen »Übergangsrituale«,
die »rites de passage«, wie sie der französische Anthropologe Arnold van Gennep
(1873–1957) genannt hat: Zeiten »zwischen den Zeiten«, durch die die
Lebensabschnitte, etwa die Zeit des Kindes, des jungen Kriegers, des
Erwachsenen, des Greises sorgfältig und oft mit großem Aufwand voneinander
abgegrenzt werden – sie sind heute bis auf einige wenige Überbleibsel nahezu
vollkommen verschwunden; ob uns das seelisch zum Vorteil gereicht, mag
dahingestellt bleiben. Und zweitens waren diese Gesellschaften, mit Ernest
Gellner gesprochen, »mehrsträngig« oder »vieldimensional«. Ich zitiere hier das
Original, wobei Gellner zunächst die Gegenwartsgesellschaft beschreibt:
»In einer komplexen und
großen, atomisierten und spezialisierten Gesellschaft können einspurige
Aktivitäten einen ‚rationalen‘ Sinn haben. Sie gehorchen dann einem einzigen
Zweck oder Kriterium, dessen Erfüllung einigermaßen präzis und objektiv
beurteilt werden kann. Ihre instrumentelle Wirksamkeit, ihre ›Rationalität‹,
läßt sich überprüfen. Wer zum Beispiel einen Kauf tätigt, wird von dem
einfachen Interesse geleitet, die besten Ware zum billigsten Preis zu erstehen.«
Soweit die Situation in unserer heutigen Gesellschaft, und es bedarf wohl kaum
weiterer Erläuterung, dass diese überprüfbare Rationalität auch eine sozial
verbindlich festgelegte, technisch präzise messbare einheitliche Zeit
voraussetzt. Wie sah es aber zu anderen Zeiten aus? Hierzu wiederum Gellner: »Anders
in einem von Mehrdimensionalität bestimmten sozialen Zusammenhang: Wer in einer
Stammesgemeinschaft etwas von seinem dörflichen Nachbarn kauft, sieht sich
nicht nur einem Verkäufer gegenüber, sondern auch einem Sippengenossen, einem
Menschen, der mit ihm zusammenarbeitet, mit ihm verbündet ist oder konkurriert,
seinem Sohn möglicherweise die Braut liefert, mit ihm gemeinsam zu Gericht
sitzt, an Ritualen teilnimmt, das Dorf verteidigt, in der Ratsversammlung
sitzt. Diese ganzen vielfachen Beziehungen gehen in die ökonomische Transaktion
ein und hindern beide Parteien daran,
sie nur isoliert unter dem wirtschaftlichen Gesichtspunkt zu sehen. In einem
vielsträngigen Kontext dieser Art ist ein ›rationales‹ ökonomisches Verhalten,
das sich ausschließlich am Gewinndenken orientiert, ausgeschlossen. Solch ein
Verhalten würde sich in katastrophaler Weise über die vielen anderen Erwägungen
und Rücksichten hinwegsetzen, die bei dem Handel eine Rolle spielen und ihn
beschränken. Diese anderen Erwägungen sind vielfältig, nicht zu überschauen,
ineinander verwoben und häufig unvergleichbar und lassen sich deshalb in keine
Kosten-Nutzen-›Rechnung‹ einbeziehen.«
Die Funktion traditioneller
Gesellschaften im Stadium des Jagens und Sammelns beruhte vielfach auf einer
intensiven Selbstbegrenzung, die wir aus heutiger Sicht teilweise als
bedrückend, teilweise als wohltuend empfinden – immerhin hat sie diesen
Gemeinwesen, so viel ist sicher, über etliche Jahrtausende hinweg Stabilität
garantiert.
Die technokratische
Gesellschaft der Moderne hingegen beruht auf Freisetzung und Entgrenzung (»anything
goes«: alles ist möglich...) – mit fragwürdigen Folgen, zum Beispiel in
ökologischer Hinsicht, und wie lange sie noch überdauert, ist keineswegs
ausgemacht. Jedenfalls gibt es eine Menge Gründe, in sich in dieser zutiefst
destruktiven Zivilisation unbehaglich zu fühlen. Möglicherweise wird am Ende
der Dichter Bertolt Brecht (1898–1956) Recht behalten:
»Wir sind gesessen, ein leichtes
Geschlecht
In Häusern, die für unzerstörbare
galten
(So haben wir gebaut die langen Gehäuse
des Eilands Manhattan
Und die dünnen Antennen, die das
Atlantische Meer unterhalten).
Von diesen Städten wird bleiben: der
durch sie hindurchging, der Wind!«
Ich danke für Ihre Geduld und hoffe,
Ihnen Unbehagen bereitet zu haben.
Till Bastian, Zürich, 9. November 2017
Till Bastian im Psychosozial-Verlag: