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10. Todestag Hans Keilsons

Am 31. Mai 2021 jährt sich der Todestag von Hans Keilson zum zehnten Mal. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir an dieser Stelle einen kleinen Ausschnitt aus Barbara Stambolis‘ Aufsatz »Öffentliche und wissenschaftliche Wahrnehmung von Hans Keilsons Arbeit mit traumatisierten jüdischen Kriegswaisen«, der gerade in Folgen sequenzieller Traumatisierung erschienen ist.

Als Hans Keilson 2011 starb, war das weltweite Echo bemerkenswert. Die New York Times titelte: »Hans Keilson, Novelist of Life in Nazi-Run Europe, dies at 101« und stellte das literarische Werk Keilsons in den Mittelpunkt der Betrachtung (Grimes, 2011). Bereits in den 1960er Jahren hatte er in den USA Beachtung als Schriftsteller gefunden. 2010 hatte die New York Times ihn als »Doctor and Writer of Wartime Wounds« unter der Überschrift »A Physician Examines His Novels« gewürdigt (Erlanger, 2010). Ebenfalls 2010 schrieb die amerikanische Schriftstellerin Francine Prose, bei einigen seiner literarischen Arbeiten handele es sich um »Meisterwerke« (Prose, 2010). In seiner rückblickenden autobiografischen Schrift Da steht mein Haus allerdings schrieb er selbst bilanzierend: »Meine Sequentielle Traumatisierung bei Kindern, die Studie, die aus meiner Arbeit mit jüdischen Waisenkindern hervorgegangen ist, das ist das Buch, das überleben wird« (Keilson, 2011a, S. 219).

Hans Keilson gehörte zu den deutschen Bürgerinnen und Bürgern jüdischen Glaubens beziehungsweise zu den Menschen, die aufgrund ihres Familienhintergrundes zu Jüdinnen und Juden erklärt wurden und die nur durch Flucht und Emigration ihr Leben retten konnten, während ihre Familienangehörigen und Freunde mehrheitlich dem nationalsozialistischen Rassenwahn zum Opfer fielen. Ausgrenzung und Diskriminierung hatte er selbst erfahren, und zwar, wie viele andere auch, bereits vor Beginn der nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft. Zudem hatte er nach 1933, vor seiner Ausreise aus Deutschland im Jahre 1936, die zunehmende Bedrohung deutsch-jüdischer Heranwachsender beobachtet. Während seiner Tätigkeit als Sportlehrer nach seinem medizinischen Examen (1934) habe er unter anderem in einem jüdischen Waisenhaus seelisch verstörte Heranwachsende erlebt. Dort, so Keilson 2009 rückblickend, seien ihm – in den ersten Jahren der NS-Herrschaft bereits – Kinder begegnet, 

»die alles verloren hatten, als sie aus den Verstecken und aus den Lagern zurückkamen […]. Ich sah die Zerstörung in uns und in ihnen, tagsüber, wenn sie spielten, und ich hörte sie abends in ihren Betten weinen, ohne Zurückhaltung weinen. Niemand brauchte sich zu schämen, ein jedes Kind wusste, warum ein anderes weinte, und auch wir, Erwachsene im Heim, wussten es« (Keilson, 2009, S. 94).

In den Niederlanden setzte er seine Arbeit mit jüdischen Kindern und Jugendlichen fort. In seinen Erinnerungen schreibt er, er habe »zusammen mit anderen Überlebenden« eine »Organisation zur Versorgung der jüdischen Kriegswaisen« – Le Ezrat HaJeled – gegründet. Wörtlich: 

»Zweitausendeinundvierzig Kinder aller Altersstufen hatten die Verfolgung als Waisen überlebt. Ihnen wie auch den mehr als vierhundert Kindern aus den Lagern des vormaligen Niederländisch Indien mussten Vormundschaften zugewiesen werden […]. Ich arbeitete für unsere Organisation, die Kinder erzählten mir ihre Geschichte, die bald auch die meine wurde. Oft war ich ungeschickt, fragte nach Umständen in Verstecken und Lagern, von denen sie nichts berichten konnten, da ihre und meine Sprache nicht dahin reichte, schrieb zahllose Rapporte für verschiedene Instanzen und legte Dossiers an. […] Es gab viele ärztliche, psychologische, soziale und rechtliche Fragen, neuartige und oft äußerst verzwickte, da die Gesamtproblematik dieser Kinder die persönliche Dimension überstieg und die jüdische Gruppe als Kollektiv betraf« (Keilson, 2009, S. 98, S. 109).

Ob Hans Keilson die von ihm genannte Organisation zur Betreuung jüdischer Waisen tatsächlich gründete, ist nicht sicher. 

Zutreffend ist, dass Hans Keilson, nachdem er 1936 in die Niederlande geflohen war, während der deutschen Besatzungszeit untertauchte und sich in dieser Zeit bereits für jüdische Minderjährige einsetzte, mit ihnen jedoch noch nicht als ausgebildeter Analytiker arbeitete. 1948 legte er das niederländische medizinische Staatsexamen ab, 1951 wurde er als Psychiater registriert, 1954 wurde er außerordentliches Mitglied der niederländischen psychosomatischen Vereinigung, auf das Jahr 1968 datiert seine ordentliche Mitgliedschaft (Stroeken, 2013). 

Ein früher Beitrag Keilsons zu seinem wissenschaftlichen Lebensthema erschien 1949 in einem Sammelband Die Psychohygiene in der Rubrik »Zeitbedingte Probleme« unter dem Titel »Psychologie der jüdischen Kriegswaisen«. Hier thematisierte Keilson bereits in aller Deutlichkeit – allerdings ohne von sequenzieller Traumatisierung zu sprechen – das Problem der sich über einen längeren Zeitraum erstreckenden Belastungen jüdischer Kriegswaisen: 

»Es handelt sich um Kinder, die beinahe ohne Ausnahme alle Ängste der mit dem Tragen des gelben Sternes beginnenden und sich immer schärfer anlassenden Verfolgungen, kulminierend in den Razzien, miterlebt hatten, das plötzliche Verschwinden von Angehörigen, Bekannten, Freunden, Spielkameraden, d.h. nicht nur die Isolierung von der nichtjüdischen Gemeinschaft, sondern auch die panische Auflösung ihrer eigenen, vertrauten Gemeinschaft« (Keilson, 1949, S. 282).

Er verwies in diesem Aufsatz auf Studien aus den 1930er Jahren, die Ausgrenzungsprozesse jüdischer Heranwachsender beschrieben hatten (Blumenfeld, 1936), und konnte, wie bereits angesprochen, auf eigene Erfahrungen zurückgreifen, die er auch in autobiografischen Erinnerungen thematisierte (Keilson, 2011a, S. 10). 

Die Forschungen Hans Keilsons (Keilson 1979/2005) und die 1979 zeitgleich mit seiner Studie „Sequentielle Traumatisierungen“ erschienene grundlegende Arbeit des Tübinger Kinder- und Jugendpsychiaters Reinhart G. E. Lempp, die sich der „Kinder- und Jugendpsychiatrie der Verfolgten“ widmete (Lempp, 1979), stellen Marksteine der Traumaforschung dar. Keilson unterschied drei Phasen des traumatischen Prozesses im Leben von Shoah-Überlebenden. Der dritten Sequenz, d.h. der Zeit nach den Holocaust-Erfahrungen sei besondere Aufmerksamkeit zu widmen, so Keilson. (Aktuell gibt es gute Argumente für erweiterte und veränderte Konzepte, die ein Fünf-Phasenmodell für traumatische Erfahrungen über einen längeren Zeitraum hinweg sinnvoll erscheinen lassen.)

Einen ausführlichen Themenschwerpunkt anlässlich des zehnten Todestages finden Sie auch hier:
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